Im 20. Jahrhundert kapitulierte die Zivilisation. Zwei Weltkriege demonstrierten mit eindringlicher Grausamkeit, wozu der Mensch in seinem eitlen Zerstörungswahn fähig ist. Gegenüber Auschwitz, aber auch im Angesicht von Hiroshima verstummte die Kunst und fand nur mühsam über Seitenwege zu einer angemessenen Sprache zurück. Das Spektrum reichte von Paul Celans “Todesfuge” bis zu Benjamin Brittens “War Requiem” als akustischem Mahnmahl gegen den Ungeist der Menschheit.
Coventry ist eine Industriestadt in Mittelengland, spezialisiert auf Textilherstellung, Automobil- und Flugzeugmotorenbau. Das war der Grund, weshalb es unter einem der schwersten Angriffe der deutschen Luftwaffe zu leiden hatte, die das Empire im Zweiten Weltkrieg erlebte. In der nacht vom 14. zum 15. November 1941 wurde die Innenstadt durch Bombardements nahezu vollständig zerstört. Von der Kathedrale aus dem 13. Jahrhundert blieb nur ein steinernes Skelett stehen, ein Fanal der Barbarei, die die Welt überzog. Als nach 1945 der Wiederaufbau der Stadt vorangetrieben wurde, beschloss man daher, die Ruine als Denkmal stehen zu lassen und ihr zur Seite eine neue Kirche zu errichten. Im Mai 1962 wurde sie geweiht. Bereits wenige Tage später sorgte ein bewegender Festakt für die internationale Würdigung des Baus und dessen Bedeutung. Denn kein Geringerer als Benjamin Britten hatte aus diesem Anlass ein monumentales Werk geschaffen – das “War Requiem”, das am 30. Mai 1962 in Coventry uraufgeführt wurde.
Brittens Anliegen als überzeugter Pazifist war es, die Menschen über alle Schichten und Vorkenntnisse hinweg mit diesem Werk zu erreichen. Daher griff er auf mehrere Ebenen der Gestaltung zurück, die Verständlichkeit und Komplexität vereinten. Das Libretto ist zweisprachig aus lateinischen Texten einer Totenmesse und den Gedichten des 1918 gefallenen Poeten Wilfried Owen zusammengesetzt, denen jeweils eigene musikalische Ebenen zugeordnet werden. Da sind ein deutscher und eine englischer Soldat mit ihren Stimmen und ein Kammerorchester im Vordergrund. Eine Sopranistin, Chor, Knabenchor und Orchester vollziehen auf einem zweiten Niveau die eigentliche Messe. Die Elemente stehen zunächst nebeneinander, um sich im “Libera Me” eindrucksvoll zu verbinden. Das Publikum der Uraufführung verstand die Direktheit von Brittens Tonsprache und feierte das Werk als eine der bedeutendsten Aufführungen britischer Kunst des Jahrhunderts.
Nicht zuletzt deshalb wurde das “War Requiem” ein gutes halbes Jahr nach der Premiere unter der Leitung des Komponisten in der Londoner Kingsway Hall auf Bändern festgehalten. Neben dem London Symphony Orchestra, dem Melos Ensemble und verschiedenen Chören waren in den Hauptrollen Galina Vishnevskaya, Peter Pears und Dietrich Fischer-Dieskau zu hören. Darüber hinaus entstand ein seltenes Dokument künstlerischer Schaffenskraft. Denn der Tontechniker John Culshaw ließ auf eigene Initiative während der Proben sowohl auf der Bühne wie auch in der Regie die Mikrofone offen und archivierte die Zusammenarbeit Brittens mit dem Ensemble. Die Bänder verschwanden zunächst in seinem Schrank, wurden aber für die CD-Ausgabe des “War Requiems” ausgegraben und als spannende Ergänzung der eigentlichen Aufnahme beigefügt. So erschließt sich das Werk über mehrere Zugänge: den Inhalt, die Darstellung, die Interpretation und die Kommentare des Komponisten. Ein ungewöhnliches Beispiel zeitgenössischer Kunst und deren Dimension.
Die Referenz:
“Man hat diese Einspielung aus dem Jahr 1963 jetzt klanglich aufbereitet, sie wirkt nun frischer und rauschärmer, weshalb die Interpretation durch ihre klug dosierte Intensität noch direkter überzeugt. Ein einzigartiges Dokument: als Kunstwerk und als Zeugnis seiner Entstehung.” (R. Wagner in KLASSIK heute 10/99)".