Seiji Ozawa hatte bis zu seinem 14. Lebensjahr noch nie ein Orchester live gesehen, und die westliche Musiktradition, die ihm von seiner Mutter nahegebracht worden ist, fristet im Japan der vierziger und fünfziger Jahre eine absolute Nischenexistenz. Einige wenige Migranten aus Amerika und Russland und jüdische Künstler, die vor den Nazis auf der Flucht sind, bringen europäische Musik mit nach Japan. Von einem etablierten Betrieb kann aber keine Rede sein. Umso glücklicher ist der Umstand, dass der junge Ozawa ein ganz besonderes Konzert erleben wird, als er sich im Alter von 14 Jahren mit dem Gedanken trägt, Dirigent zu werden.
Er sieht eine Aufführung des russischen Klaviervirtuosen Leonid Kreutzer, der vom Flügel aus das majestätische Klavierkonzert Nr. 5 in Es-Dur von Ludwig van Beethoven dirigiert. Der junge Ozawa ist hingerissen von dem Auftritt und beginnt wie manisch Partituren zu studieren.
Aufstieg zum Stardirigenten: Seiji Ozawa
Dass eine Weltkarriere vor ihm liegt, ist damals noch nicht abzusehen. Aber so kommt es: Seiji Ozawa, der als Assistent von
Herbert von Karajan und
Leonard Bernstein seine vielfältigen Begabungen verfeinern wird, avanciert zu einem der bedeutendsten Dirigenten der Gegenwart. Heute blickt der 83-Jährige, der erst vor kurzem in Tokio aus Anlass des
120. Geburtstags der Deutschen Grammophon in einer bewegenden Gala mit dem
Saito Kinen Orchestra und
Anne-Sophie Mutter zu erleben war, auf eine über sechzigjährige Laufbahn zurück.
Seiji Ozawa hat während seiner fruchtbaren Karriere zahlreiche Referenzaufnahmen bedeutender Orchesterwerke vorgelegt. Gemeinsam mit der Deutschen Grammophon produzierte er einen reichhaltigen Fundus ergreifender Einspielungen romantischer, spätromantischer und moderner Orchesterliteratur. Jetzt kommen erstmals sämtliche Aufnahmen, die der japanische Dirigent für die Deutsche Grammophon getätigt hat, gebündelt in einer Ausgabe heraus.
Noble Edition: Zeugnisse eines begnadeten Grenzgängers
Die limitierte Edition umfasst 50 Tonträger, darunter zahlreiche Klassiker der Aufnahmegeschichte, wie das rhythmisch pulsierende Violinkonzert in D-Dur von
Igor Strawinsky, hier mit einem glänzend aufgelegten
Itzhak Perlman an der Geige, oder die melancholischen Klavierkonzerte Nr. 1 und Nr. 2 von
Sergei Rachmaninow mit
Krystian Zimerman am Klavier – alles Einspielungen mit dem
Boston Symphony Orchestra, das Seiji Ozawa von 1973 bis 2002 leitete und das die gerade erschienene Großedition deshalb deutlich dominiert.
Bei aller formalen Korrektheit und Detailfreude, die ihn auszeichnen, vergisst Seiji Ozawa nie das große Gefühl, wie vor allem seine Tschaikowsky-Aufnahmen eindrucksvoll bezeugen. Ein besonderes Augenmerk des Dirigenten gilt französischen Komponisten, wie Hector Berlioz, Claude Debussy, Maurice Ravel oder Henri Dutilleux. Hier kann er, wie es Julia Spinola in ihrem Booklet-Essay treffend beschreibt, “seine Kunst, kaleidoskopisch schillernde, kristalline Klanglandschaften zu formen, besonders eindrucksvoll entfalten”.
Aber auch im Umgang mit Werken von Beethoven oder Brahms, Prokofjew oder Bartók zeigt sich der japanische Dirigent auf der Höhe einer modernen Interpretationskunst und liefert mit frappierender Regelmäßigkeit elektrisierende Resultate. Unübertroffen ist zum Beispiel seine Interpretation der sieben Sinfonien von Sergei Prokofjew mit den Berliner Philharmonikern.
Die limitierte Edition erscheint mit einem umfangreichen Booklet inklusive eines neuen Essays sowie den originalen Covern der Erstveröffentlichungen.