Das Drama gab es bereits seit rund zwei Jahrzehnten, war aber zunächst vorwiegend im deutschsprachigen Raum bekannt. Erst 1827 übersetzte der junge Gérard de Nerval den “Faust” ins Französische. Umso nachhaltiger war die Wirkung auf neugierige Zeitgenossen wie Hector Berlioz. Gebannt von der emotionalen Vielschichtigkeit der Geschichte begann er noch während der Lektüre, einige Szenen zu vertonen.
Berlioz war Mitte Zwanzig, ein Jungspund, der sich für Shakespeare und Goethe begeisterte. Das war durchaus im Trend der Zeit, galten doch beide Autoren als wegweisende Gestalten ihrer Ära mit dem heimlichen Hang zum humanistisch fundierten Revolutionären. Der “Faust” jedenfalls markierte eine Epochengrenze, literaturgeschichtlich gesehen die Vorwegnahme des Romantischen aus dem Geist des Klassischen. Berlioz jedenfalls war hin und weg: “Das wunderbare Buch faszinierte mich sogleich. Es verließ mich nicht mehr; ich las es ständig, bei Tisch, im Theater, auf der Straße”, schrieb er in seinen Memoiren und fügte hinzu: “Die Übersetzung in Prosa enthielt auch gereimte Bruchstücke, Lieder, Gesänge usw. Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, einige in Musik zu setzen; und kaum hatte ich diese schwierige Aufgabe zu Ende geführt, als ich, ohne eine Note meiner Partitur gehört zu haben, die Dummheit beging, sie drucken zu lassen”. Seine vermeidliche Torheit bemerkte Berlioz erst nach der Uraufführung der am aufwändigsten gestalteten Szene der Komposition, die er am im April 1829 am Pariser Konservatorium geboten bekam. Das Publikum war gar nicht unzufrieden, die der Urheber selbst jedoch zog sowohl das “Concert de Sylphes” als auch die übrigen Stücke zurück und versuchte sogar, möglichst viele Exemplare der Noten zu vernichten. Jedenfalls landete sein op.1 im Wandschrank und wurde erst 1845 wieder herausgekramt, als er sich an die Ausarbeitung der dramatischen Legende “La Damnation de Faust” wagte.
Überhaupt war er gelegentlich ein wenig wankelmütig im Umgang mit seinen Werken. Wahrscheinlich lag es daran, dass Berlioz auch sonst impulsiv auf Ereignisse im ihn herum reagierte. Politisch gesehen zunächst ein Bewunderer der Revolutionäre, wandte sich seine Weltsicht in den 1850er Jahren den konservativen Kreisen zu, da dort mehr Kunstverstand zu herrschen schien als bei den Bilderstürmern. Insofern ist es verständlich, dass er sowohl die “Marseillaise” bearbeitete, als auch mit “L’Impériale” eine Hymne auf Napoleon III schrieb (die der Potentat jedoch nicht zu würdigen wusste). Für den Dirigenten Charles Dutoit jedenfalls boten sich zahlreiche, sehr unterschiedliche Werke zu Aufführung und Aufnahme an, als er aus Anlass des 200.Geburtstages des Komponisten ein ausgefallenes Programm zusammenstellen wollte. Neben den verschmähten Szenen aus dem “Faust” und den beiden gegensätzlichen Orchesterstücken wählte er “Le Chasseur Danois” und “Sur les Lagunes”, die Bearbeitungen zweier Liedes von 1841, außerdem eine Ensembleversion des Liedes “Plaisir d’Amour” von Jean-Paul-Égide Martini, die Berlioz 1859 für den Sänger Charles-Amable Battaille und Kammerorchester erstellte. Gemeinsam mit dem symphonischen Orchester und Chor von Montréal und dessen Solisten gelang es Dutoit auf diese Weise, einen alternativen Blickwinkel auf die Schaffenskraft des französischen Klangmagiers zu entwickeln, der den bisherigen Einspielungen ungewöhnliche Färbungen hinzufügt.