Am 20. Februar 2019 jährt sich zum fünfzigsten Mal der Todestag des Schweizer Dirigenten Ernest Ansermet. Der zu Lebzeiten als Star verehrte Künstler gehört zu den wichtigsten Interpreten moderner Orchestermusik. Eng befreundet mit Igor Strawinsky und bekannt mit Größen wie Claude Debussy oder Maurice Ravel, besaß er eine besondere Nähe zur Avantgarde des 20. Jahrhunderts. Den Weg in die Atonalität wollte er nicht mitgehen, aber innerhalb des tonalen Kontinents bewegte er sich vorzugsweise in den Grenzregionen. Ernest Ansermet brachte zahlreiche Schlüsselwerke der Moderne zur Erstaufführung, darunter – in Zusammenarbeit mit Pablo Picasso, Jean Cocteau und Léonide Massine – Erik Saties vibrierende Musik zu Cocteaus skandalträchtigem Ballett “Parade” (1917), Arthur Honeggers furiose Tondichtung “Pacific 231” (1924) und Benjamin Brittens tiefsinnige Kammeroper “The Rape of Lucretia” (1946).
“Er errät immer, was man machen wollte”, so der Schweizer Komponist Arthur Honegger über Ansermets einzigartige Gabe, die musikalische Essenz eines Werkes zu destillieren. Dabei gelang dem Dirigenten mit sicherem Instinkt, was nur wenigen Neuerern am Pult beschieden ist: das Publikum mit avantgardistischer Musik zu begeistern. Ernest Ansermet, in den Proben ein gestrenger Lehrmeister, der dem Orchester keine Nachlässigkeit durchgehen lässt, war eine hochempfindsame Persönlichkeit, die den Geist der Moderne erspürte.
Trotz seines ernsten, bisweilen hermetischen Wesens entwickelte er sich mit erstaunlicher Selbstverständlichkeit zu einem Publikumsliebling. Er war “sehr populär, ein Mythos”, so François Hudry, Biograph von Ernest Ansermet. “In Genf und Lausanne wurde er gefeiert wie die Beatles. Man kann sich heute kaum noch die Wirkung und das Renommee vorstellen, die er besonders durch seine Platten und seine Ausstrahlungen bei Radio Genf besaß.” (Le Temps)
Nach seinem Tod im Jahre 1969 wurde es bald still um den großen Dirigenten, dessen gewaltige Diskographie sich erst nach und nach dem Publikum erschloss. Decca hat den Ausnahmedirigenten unterdessen mit zwei vielbeachteten Editionen zurück ins Gedächtnis gerufen und sein reichhaltiges Erbe ins digitale Zeitalter gerettet. In den beiden überaus reichhaltigen Ausgaben, die in den Jahren 2013 und 2014 herauskamen, erlebt man Ernest Ansermet mit fulminanten Interpretationen französischer und russischer Orchestermusik, auf höchstem Klangniveau, im kultigen Decca-Sound. Ernest Ansermet nahm, ähnlich wie Herbert von Karajan, leidenschaftlich Anteil an Innovationen auf dem Feld der Aufnahmetechnik und wusste das Studio, das Decca ihm in der Victoria Hall in Genf eingerichtet hatte, intensiv zu nutzen.
Alle Einspielungen mit dem von ihm selbst im Jahre 1940 gegründeten und bald weit über die Schweiz hinaus bekannten “Orchestre de la Suisse Romande” entstanden in diesem Studio, darunter mitreißende Referenzaufnahmen von Schlüsselwerken Claude Debussys, Maurice Ravels, Peter Tschaikowskys oder Modest Mussorgskys, denen sich “der Mathematiker mit dem Taktstock”, wie er wegen seiner unerbittlichen Präzision und seiner frühen Laufbahn als Mathematiklehrer genannt wurde, jeweils mit leidenschaftlicher Inbrunst und einem untrüglichen Gespür für klangliche Feinheiten zu widmen wusste.