Das ist eigentlich der Stoff, aus dem Filme gemacht werden: Eine weltweit bekannte Pianistin, die in den 50er und 60er Jahren mit ihren Schallplattenaufnahmen von Chopin und Liszt für Begeisterung sorgte, kehrt nach 66 Jahren zu ihrem alten Label zurück und nimmt dort eine neue Platte auf.
Dass Decca Classics jetzt stolz die Neuverpflichtung der legendären Pianistin Ruth Slenczynska bekannt geben kann, die am 15. Januar ihren 97. Geburtstag feierte, ist nur ein Teil der wunderbaren Geschichte. Der andere ist, dass sich Ruth Slenczynska im Alter von 96 Jahren erneut den hohen Anforderungen einer Schallplattenproduktion mit schwierigstem Repertoire stellte: Chopin, Rachmaninoff, Bach, Grieg, Barber. Decca Classics hat jetzt ihr brandneues Solo-Klavieralbum mit dem Titel “My Life in Music” veröffentlicht.
Das Album feiert ihre wahrlich bemerkenswerte Karriere als Pianistin, die in den 1920er Jahren als Wunderkind begann und neun Jahrzehnte später andauert.
Das Leben der 1925 in Sacramento, Kalifornien, als Tochter polnischer Einwanderer geborenen Ruth Slenczynska verlief in eben solchen Bahnen: im Alter von vier Jahren spielte sie ihr erstes Konzert, mit Fünf trat sie zum ersten Mal im Fernsehen auf und gab mit sechs ihr europäisches Konzertdebüt in Berlin. Jetzt, 92 Jahre später, tritt die außergewöhnliche Pianistin immer noch vor Publikum auf der ganzen Welt auf. Ihren 97. Geburtstag feierte sie mit einem Rezital im Lebanon Valley College in Pennsylvania.
Ruth Slenczynska als die Protagonistin gelebter Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts zu betrachten, ist durchaus angemessen: Sie war mit großen Pianisten wie Shura Cherkassky oder Jorge Bolet befreundet. Als Kind wurde sie von einigen der berühmtesten Pianisten der Geschichte, darunter Egon Petri, Alfred Cortot und Josef Hoffmann unterrichtet. Sie ist die letzte lebende Schülerin des großen russischen Komponisten und Pianisten Sergej Rachmaninow und sprang sogar in letzter Minute für ihn ein, als er verletzungsbedingt nicht auftreten konnte. Der amerikanische Komponist Samuel Barber war ihr Kommilitone und Freund. Sein weltberühmtes “Adagio for Strings” hörte Slenczynska im gemeinsamen Klassenzimmer, bevor es überhaupt seinen Titel hatte.
Von diesen Begegnungen ist ihr Album “My Life in Music” inspiriert. So wählte Ruth Slenczynska von den 13 Preludes, Op. 32, die Rachmaninoff im Jahre 1910 komponiert hatte, die Nr. 5 in G-Dur aus: schwerelos wirkende, lichte Tonmalerei. Ebenso wie die Nr. 3, "Gänseblümchen“, aus den 1924 entstandenen Transkriptionen für Klavier nach eigenen Liedern op. 38 von Rachmaninoff. Samuel Barber widmete sein 1959 komponiertes Nocturne “Homage to John Field” Op. 33 jenem Komponisten, der als erster die Form des Klavier-Nocturne aus der Taufe hob, wie Chopin sie später übernahm. "Some Jazzings“ nannte Barber seinen 1925/26 komponierten Mini-Zyklus "Fresh from West Chester“, dessen Nr. 2 "Let’s Sit It Out, I’d Rather Watch“ hier erklingt.
Dass die Musik Fréderic Chopins die Grundlage von Ruth Slenczynskas musikalischer Entwicklung bildete und sie sich über die Jahre den Ruf einer der berühmtesten Chopin-Interpretinnen erwarb, spiegelt sich auch in der Repertoirewahl für ihr aktuelles Album wider, bei der Chopin den Schwerpunkt bildet. Darunter etwa der 1831 komponierte Walzer Es-Dur, Op. 18, der die Überschrift "Grand valse brillante“ trägt oder die 1843 komponierte Berceuse in D-Flat Major, Op. 57, die Chopin ein Jahr später noch mal revidierte. Von den 12 "Grandes Études“, Op. 10 entstanden die ersten, darunter auch die Nr. 3 in E-Dur, noch in Polen, bevor Chopin im November 1830 das Land verließ und nach Paris ging. Die sehr populäre Weise im Stile eines Nocturnes erinnerte den Komponisten auch später noch an polnische Lieder. Mit Stücken wie "Wedding Day at Troldhaugen“ aus den "Lyrischen Stücke “, Op. 65 von Edvard Grieg oder dem Präludium und Fuge in Cis-Moll, BWV 849 aus dem 1. Teil des Wohltemperierten Klaviers von Johann Sebastian Bach und "La fille aux cheveux“ aus den Préludes, mit denen Claude Debussy der Bach-Tradition folgte, schlägt Ruth Slenczynska einen Bogen der Erinnerung an ihre großen Klavier-Mentoren.
Sprichwörtlich ist das Album "My Life in Music“ ein in jeder Beziehung außergewöhnliches Dokument einer außergewöhnlichen Künstlerin.