Etüden sind Übungsstücke, die vor allem die technische Fingerfertigkeit trainieren sollen. Doch wenn man Valentina Lisitsa zuhört, wie sie den Etüden von Frédéric Chopin und Robert Schumann Leben einhaucht, dann eröffnen sich einem hochemotionale Klangwelten. Das klingt nicht nach einer Übungsstunde, sondern virtuos, poetisch und brillant. Valentina Lisitsa lässt die Musik perlen, donnern, stürmen, tanzen und zärtlich hauchen. Es ist vor allem die Vielseitigkeit ihres Anschlags, die dieses Album zu einem echten Meisterwerk macht.
Doch Technik ist nicht alles. Ohne eine große Portion Musikalität wird auch das virtuoseste Spektakel auf Dauer langweilig. Valentina Lisitsa hat sie, diese Musikalität und diese unbeschreibliche Magie, die sich ganz unmittelbar auf einen überträgt, wenn ein Künstler wirklich etwas zu sagen hat. Die Technik hat sich Valentina Lisitsa hart erarbeitet, als junge Pianistin saß sie lange unentdeckt an den Tasten, spielte für sich, stundenlang, nicht für den Applaus und die Bühne, sondern weil sie es wirklich wollte. Das spürt man in ihrem Spiel bei jedem Ton. Es ist nicht effektheischend, sondern hat eine authentische Ausdruckskraft, die einen sofort berührt.
Die Werke von Frédéric Chopin stehen für äußerste virtuose Anforderungen an den Pianisten, 27 Etüden hat er insgesamt geschrieben, die ersten zwölf davon sind keinem geringeren als dem pianistischen Tausendsassa Franz Liszt gewidmet. In Chopins Etüden kann man nichts verstecken, keine Schwäche zeigen, denn die Musik lebt von der Perfektion. Und noch dazu muss das alles ganz einfach klingen, sonst verlieren die Kapriolen, Läufe, Triller und Umspielungen ihren Glanz. Diese Etüden überzeugend darbieten zu können, das gleicht einem künstlerischen Ritterschlag. Valentina Lisitsa eröffnet ihr Album mit Chopins Etüde Nr.1 Op.10 in C-Dur. Ihre Finger fliegen in kunstvollen Arpeggien voller Energie über die Tasten – dann das ganze nochmal im mezzoforte? Bitteschön! Die Nuancen sind wunderbar feinsinnig ausgestaltet. In Chopins Etüde Nr. 5 in g-moll aus seinem Opus 10 kommen nur die schwarzen Tasten zum Einsatz. Valentina Lisitsa lässt in irrsinnigem Tempo vor dem inneren Auge ganze Kolibrischwärme mit flirrenden Flügeln aufsteigen. Doch nur Sekunden später wird man auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Mit “Tristesse” ist Chopins Etüde in E-Dur übertitelt und Valentina Lisitsa kreiert im Handumdrehen eine rührend melancholische Grundstimmung. Hier dominiert nun nicht die spielerische Fingerfertigkeit, sondern der Mut zum Innehalten. In Chopins 27 Etüden zeigt Valentina Lisitsa 1001 Farben.
Was wäre die Romantik ohne Robert Schumann? Der sächsische Komponist beweist mit seinen zwölf “Sinfonischen Etüden”, dass er den virtuosen französischen Kompositionen in nichts an Brillanz nachsteht. Die Stücke gehören zur wichtigsten Klavierliteratur des 19. Jahrhunderts. Wie sein Kollege Frédéric Chopin war Robert Schumann nicht gerade mit einem sonnigen Gemüt ausgestattet. Selbstzweifel begleiteten sein ganzes Leben. “Es überläuft mich eiskalt, wenn ich denke, was aus mir werden soll”, schrieb er in sein Tagebuch. Vielleicht führte das dazu, dass in den Kompositionen so viele tiefgreifende Empfindungen zu entdecken sind. Valentina Lisitska versteht es, auch diese Abgründe in der Musik mit viel Gefühl greifbar zu machen und Schumanns Gefühlswelt sensibel zu offenbaren. Die Kompositionen sind dicht und komplex und wie bei Chopins virtuosen Fingerspielen braucht man dafür nicht nur technische Brillanz und Rafinesse, sondern auch Köpfchen, um sie überzeugend zu interpretieren. Die sinfonische Kraft, die in Robert Schumanns “Sinfonischen Etüden” steckt, fordert Valentina Lisitsa noch einmal auf einer ganz anderen Ebene hinaus. Ihre zehn Finger werden zu einem ganzen Orchester und spannen einen großen musikalischen Bogen mit opernhaftem Charakter voller Farben und Kontraste.
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