Ihr erstes Vivaldi-Album im Jahre 1999 war eine Sensation. Gewiss, Cecilia Bartoli hatte das Opernpublikum bereits Jahre zuvor mit bewegenden Auftritten in Verzückung versetzt. Ihr warmes Timbre, die unfassbare Agilität ihrer Stimme und ihr natürlicher Ausdruck hatten sich spätestens Ende der achtziger Jahre in der musikinteressierten Weltöffentlichkeit herumgesprochen. Damals dominierte ihr Ruf als Belcanto-Spezialistin, die sich glänzend auf virtuose Koloraturen versteht.
Aber die junge Sängerin wollte mehr. In ihr schlummerte eine Entdeckerin, und mit ihrem ersten Vivaldi-Album stellte sie ihren Pioniergeist eindrucksvoll unter Beweis. Das Album öffnete den Blick auf Vivaldis hinreißende Arien. War der italienische Komponist bis dahin vor allem mit feierlicher Kirchenmusik und den berühmten “Vier Jahreszeiten” im Gedächtnis haften geblieben, so erinnerte Cecilia Bartoli an Vivaldis musikalische Kraft als Opernkomponist.
Vivaldi-Liebhaber und Bartoli-Fans haben sich seither oft gefragt, ob der brillante Mezzosopran ein solches Experiment wiederholen und auf Vivaldi zurückkommen wird. Wann, wenn nicht jetzt, wäre dazu aber die beste Gelegenheit? Cecilia Bartoli feiert in diesem Jahr ihre dreißigjährige Zusammenarbeit mit Decca. Aus diesem Anlass würdigt das Traditionslabel ihr Schaffen gleich in dreifacher Hinsicht. Die im September erschienene Rossini-Edition der Römerin macht ihren hinreißenden Belcanto-Stil umfassend erlebbar.
Das von der italienischen Sängerin kuratierte Sub-Label “Mentored by Bartoli”, in dem mit Javier Camarenas "Contrabandista" im Oktober ein mitreißendes Auftaktalbum herauskam, würdigt Bartolis Kompetenz als Kennerin der internationalen Opernszene und passionierte Entdeckerin. Ja, und als krönender Abschluss dieser dreifachen Würdigung erscheint jetzt das bereits sehnsüchtig erwartete, brandneue Vivaldi-Album der großen Mezzo-Sopranistin.
So viel vorweg: Das Album übertrifft alle Erwartungen. Es zeigt Cecilia Bartoli auf dem Zenit ihres Könnens. Die italienische Sängerin breitet ein enormes Spektrum an Emotionen aus. Man erlebt sie freudetrunken und klagend, verführerisch und ergeben, humorvoll und mit tiefem Ernst. Was in einer Sammlung von zehn Arien alles ausgedrückt werden kann, ist schier überwältigend. Dabei bildet das neue Album eine ideale Ergänzung zu Bartolis Vivaldi-Klassiker von 1999.
Neun der zehn Arien entstammen Bühnenwerken, die auf dem Bestseller nicht vertreten sind. Dem Neuigkeitswert in Sachen Repertoire korrespondiert stimmungsmäßig ein berührend introvertierter Ausdruck, den man in dieser Intensität von Cecilia Bartoli bislang nicht kannte. Das Album lotet ungeheure poetische Tiefen aus. Exemplarisch: Ruggerios hinreißende Arie “Sol da te, mio dolce amore” aus Vivaldis Oper “Orlando furioso”. Das brillante Flötensolo von Jean-Marc Goujon führt sensibel in die melancholische Grundstimmung der Arie ein.
Über dem sanften Klangteppich, den das von Jean-Christophe Spinosi geleitete Ensemble Matheus entrollt, erhebt sich mit hingebungsvoller Zartheit das berührende Liebesbekenntnis von Ruggerio. Phasenweise klingt Bartolis Gesang hier wie ein Flüstern, so still, so inwendig erfasst sie diese Arie. Mit den geschmeidigen Koloraturen stellt sie einmal mehr die Beweglichkeit ihrer Stimme unter Beweis. Aber nichts geschieht hier um der Virtuosität willen. Alles ist Poesie, und das macht diese Arie, das macht dieses ganze Album so wertvoll.