Kein Pianist hat mit sparsamen Gesten so überwältigende Wirkungen erzielt. Claudio Arrau glaubte an die Ernsthaftigkeit der Kunst. Um keinen Preis wollte er seinem Publikum etwas vormachen.
Das erklärt seine Geduld am Klavier, warum er sich bei jeder Art von Musik so viel Zeit ließ. Es war, als wollte er sagen: Zwingt nichts herbei. Lasst die Dinge wachsen. Das große Gefühl kommt schon. Es tritt ein, wenn man es lässt und diskret die Tür öffnet. Claudio Arrau war der Inbegriff eines nobel-zurückhaltenden Pianisten, der die Demut vor den Musen nicht verloren hatte. Er wusste um seine Qualitäten, wusste, welch enorme Effekte er mit seiner außergewöhnlichen Virtuosität erzielen konnte.
Aber es reichte ihm nicht. Zur perfekten Technik sollte etwas hinzutreten, das nicht allein in seiner Hand lag. Manche nennen es den göttlichen Funken, manche Gnade oder die Gunst der Musen. Doch wie auch immer man es nennt – Claudio Arrau besaß ein besonderes Gespür für dieses Geheimnis. Jedenfalls fand er zu einer künstlerischen Haltung, die die Musen mit verblüffender Regelmäßigkeit gnädig stimmte. Anders ist nicht zu erklären, warum sein vergleichsweise unspektakuläres Spiel so nachhaltige Wirkungen zeitigte.
Mit Veröffentlichungen von Claudio Arrau erwirbt man immer zeitlos Gültiges. Seine Interpretationen bleiben haltbar. Sie verlieren nie ihre Frische. Vielleicht ist Arraus Nähe zu den romantischen Komponisten des 19. Jahrhunderts der Grund hierfür. Der chilenische Pianist bekam noch Unterricht von einem Lieblingsschüler Franz Liszts. Und ist Liszt nicht auch der Komponist, den Arrau am tiefsten durchdrungen hat? Ausgerechnet Liszt, der so stark mit großen Gesten hantierte und virtuose Unmöglichkeiten in seine Partituren eintrug.
Claudio Arrau führt ihn uns als hochempfindsamen Poeten vor. Liszts große Gesten bewältigt der chilenische Pianist beiläufig, indem er den ganzen Körper in sein Spiel hineinlegt. Dadurch kommen Liszts Ekstasen beeindruckend lässig zur Geltung und verschlucken nicht seine zärtlicheren Momente. Außerdem scheint Arrau Liszt weniger als extravaganten Neuerer, sondern eher als organischen Bestandteil der klassisch-romantischen Tradition gesehen zu haben, was man in seiner gerade erschienenen Edition auf faszinierende Weise erlebt.
Hier erklingt Franz Liszt neben Beethoven und Schubert, Schumann und Brahms, wodurch die Einheit des romantischen Klangideals in den Fokus gerät. Kaum jemand hat die Essenz des romantischen Lebensgefühls am Klavier so präzise erfasst wie Claudio Arrau. Dafür sind seine hinreißenden Aufnahmen bei Philips und American Decca, die ab sofort in einer 80 CDs umfassenden Ausgabe gebündelt vorliegen, ein beredtes Zeugnis.
Neben der Klavierromantik des 19. Jahrhunderts offenbart die limitierte Edition auch weniger bekannte Meisterleistungen Claudio Arraus, etwa seine überaus moderne, farbenfrohe Interpretation ausgewählter Partiten von Johann Sebastian Bach oder die hinreißend sanft vorgetragenen Préludes von Debussy. Selbstredend enthält die Ausgabe auch viel Chopin und natürlich Mozart, dem Arrau eine außergewöhnliche Tiefe verlieh.
Überwältigend: Arraus flamboyante Interpretation von Beethovens Klavierkonzerts Nr. 4. Die Aufnahme mit Leonard Bernstein am Pult ist dem Fundus der Deutschen Grammophon entnommen. Tiefe Einblicke in die Künstlerpersönlichkeit Claudio Arraus gewährt das reich bebilderte und hochinformative Booklet. In zwei bislang unveröffentlichten Interviews erlebt man schließlich die Stimme des großen Pianisten. Unvergessbare Eindrücke!