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Claudio Abbado
Claudio Abbado

Biografie

Claudio Abbado
© Felix Broede / DG

Claudio Abbado 1933 – 2014

Mit tiefem Bedauern gibt Deutsche Grammophon den Tod eines der größten Dirigenten des vorigen Jahrhunderts bekannt, eines überragenden Künstlers, dessen Lebenswerk zweifellos die Zeit überdauern wird. DG war und ist stolz, Abbado auf seiner musikalischen Reise während der 46 Jahre, die er diesem Label verbunden war, begleitet zu haben und das Privileg gehabt zu haben, seine Arbeit in Aufnahmen zu bewahren.

Claudio Abbado wird nicht nur als einer der bemerkenswertesten Dirigenten seiner Zeit in Erinnerung bleiben, der die erstaunliche Fähigkeit besaß, jeweils direkt zum Kern der Musik vorzudringen und ihre Geheimnisse mit absoluter Klarheit zu enthüllen, sondern auch als ein Mensch, dessen unermüdliche Arbeit und kommunikative Begabung durch die Förderung von Musikern, Gründung von Orchestern und Einrichtung von Festivals weitreichende Wirkung auf das gesamte kulturelle Leben hatten.

Er hinterlässt zudem ein gewaltiges Vermächtnis an Aufnahmen, das seine persönliche Entwicklung als Musiker widerspiegelt, aber auch seine Begeisterung für Komponisten wie Mahler, Debussy, Verdi, Mussorgski und Schubert sowie sein Engagement für zeitgenössische Werke etwa von Nono, Stockhausen und Rihm. Es ist darüber hinaus Zeugnis seiner Arbeit mit den Institutionen, die seine Laufbahn prägten: die Mailänder Scala, das London Symphony Orchestra, die Wiener Philharmoniker und die Berliner Philharmoniker.

Claudio Abbado kam 1933 als Spross einer Musik und Kunst liebenden Familie in Mailand zur Welt. Er studierte Klavier, Komposition und Dirigieren am Konservatorium »Giuseppe Verdi« seiner Heimatstadt, bevor er nach Abschluss seines Studiums Mitte der 1950er-Jahre nach Wien ging, um bei Hans Swarowsky sein Dirigierstudium fortzusetzen. 1958 gewann er den Kussewitzky-Preis des Boston Symphony Orchestra. Zwei Jahre später gab er sein Debüt an der Mailänder Scala, als er Scarlatti an der Piccola Scala dirigierte. Das Spektrum seiner künstlerischen Interessen zeigte sich bereits in dem Repertoire dieser relativ frühen Jahre seiner Laufbahn, wenn er zum Beispiel Prokofjews Oper Die Liebe zu den drei Orangen 1962 in Triest leitete.

1963 gewann er den Mitropoulos-Preis und arbeitete mehrere Monate als Assistent von Leonard Bernstein mit den New Yorker Philharmonikern. Herbert von Karajan lud ihn ein, bei den Salzburger Festspielen 1965 in einer Aufführung von Mahlers Symphonie Nr. 2 erstmals am Pult der Wiener Philharmoniker zu stehen. Im selben Jahr dirigierte er die Uraufführung von Giacomo Manzonis Atomtod an der Piccola Scala und in der folgenden Saison leitete er seine erste Oper im großen Haus der Mailänder Scala: Bellinis I Capuleti e i Montecchi mit Pavarotti und Scotto. Nachdem er die Eröffnungsvorstellungen der beiden darauffolgenden Spielzeiten dirigiert hatte, wurde er 1968 im Alter von erst 35 Jahren Musikdirektor der Scala. Seine Amtszeit, die bis 1986 dauerte, war gekennzeichnet durch eine Reihe bahnbrechender Initiativen: Er erweiterte das Repertoire um Klassiker des 20. Jahrhunderts, ließ bedeutende neue Werke wie Stockhausens Samstag aus Licht in Auftrag geben, verpflichtete Gastdirigenten wie Carlos Kleiber und öffnete das Haus mit Konzerten für Studenten und Arbeiter breiteren Publikumsschichten. Abbado kümmerte sich persönlich um die Einführung einer neuen wissenschaftlichen Herangehensweise an Stücke des Standardrepertoires. Verbunden mit seiner Gabe, Strukturen von äußerster Klarheit herauszuarbeiten, erschienen dadurch vertraute Werke plötzlich ganz neu: Auf Rossinis Il barbiere di Siviglia, aufgeführt nach der kritischen Ausgabe von Alberto Zedda, folgten La cenerentola und L’italiana in Algeri desselben Komponisten, während Giorgio Strehlers bahnbrechende Inszenierung von Verdis Simon Boccanegra unter der musikalischen Leitung Abbados das Werk endgültig als eine der größten Opern des Komponisten etablierte.

Abbado machte 1967 seine erste Aufnahme für Deutsche Grammophon: eine noch heute im Katalog präsente, Maßstäbe setzende Interpretation von Ravels Klavierkonzert G-dur und Prokofjews Klavierkonzert Nr. 3 mit Martha Argerich und den Berliner Philharmonikern. Seine Arbeit mit dem London Symphony Orchestra schlug sich in vielen Aufnahmen für das gelbe Label nieder, darunter Il barbiere di Siviglia und La cenerentola; andere Produktionen der Mailänder Scala wie Simon Boccanegra und Macbeth wurden dagegen in Mailand mit Chor und Orchester der Scala aufgenommen. Im Laufe der Jahre dirigierte Abbado eine imposante Anzahl von Aufnahmen für Deutsche Grammophon, unter anderem das gesamte symphonische Schaffen von Beethoven, Brahms, Mahler und Schubert sowie über 20 vollständige Opern.

Nach seiner Amtszeit als Musikdirektor des London Symphony Orchestra von 1979 bis 1987 mit einem reichen Ertrag an Aufnahmen insbesondere von Mozart (Klavierkonzerte mit Rudolf Serkin), Mendelssohn (Symphonien), Ravel, Strawinsky und Debussy ging er 1986 als Künstlerischer Direktor der Staatsoper nach Wien. Zu den Höhepunkten seiner Wiener Zeit zählen Produktionen von Wozzeck und Pelléas et Mélisande, beide in DG-Aufnahmen festgehalten. Im Jahr darauf wurde Abbado Generalmusikdirektor der Stadt Wien und initiierte später das Festival »Wien Modern«, das ursprünglich zeitgenössischer Musik eine Plattform bieten sollte, inzwischen aber allen Künsten gewidmet ist.

Ein besonderes Anliegen Abbados war die Förderung des musikalischen Nachwuchses, und er war Gründer und Musikdirektor des Jugendorchesters der Europäischen Gemeinschaft, das 1981 zum Chamber Orchestra of Europa wurde. Mit diesem Orchester spielte er Rossinis Il viaggio a Reims und sämtliche Symphonien von Schubert ein (1986 bzw. 1988 von Gramophone jeweils als »Aufnahme des Jahres« ausgezeichnet).

Inmitten der Unruhe und Aufbruchstimmung in Verbindung mit dem Fall der Berliner Mauer wurde er Ende 1989 von den Musikern der Berliner Philharmoniker als Nachfolger Herbert von Karajans zum ständigen Dirigenten und künstlerischen Leiter des Orchesters gewählt. Auch in diesem Amt startete er neue Initiativen, etwa die Berliner Begegnungen, die jungen Spielern die Möglichkeit gaben, mit erfahrenen Kollegen zu musizieren, oder Konzertreihen unter einem bestimmten Thema wie »Prometheus« oder »Faust«. Er dirigierte weiterhin konzertante und szenische Operaufführungen, beispielsweise in London (Pelléas et Mélisande, Boris Godunow), Wien (Le nozze di Figaro) und vor allem Ferrara, wo er in den 1990er-Jahren eine Vielzahl von Opern leitete. Zu seinen Aufnahmen mit den Berliner Philharmonikern gehören die Gesamteinspielung von Beethovens Klavierkonzerten mit seinem langjährigen Kollegen Maurizio Pollini sowie 2001 sein zweiter Zyklus der Beethoven-Symphonien (sein erster Zyklus, mit den Wiener Philharmonikern, war 1989 erschienen). Eine Gesamtaufnahme der Mahler-Symphonien einschließlich des Adagios aus der Zehnten Symphonie mit dem Chicago Symphony Orchestra, den Wiener Philharmonikern und den Berliner Philharmonikern kam 1995 heraus.

Im Jahr 2000 musste Abbado eine mehrmonatige Pause einlegen, als bei ihm Magenkrebs diagnostiziert wurde, aber er leitete die Berliner Philharmoniker dann noch zwei weitere Spielzeiten, in denen er aus seinem ausgewählten Wagner-Repertoire neben Lohengrin auch Parsifal in Berlin, Edinburgh und Salzburg dirigierte.

Nach dem Abschied aus Berlin setzte Abbado seine Arbeit mit dem Chamber Orchestra of Europe und dem Mahler Chamber Orchestra fort. 2003 gründete er dann das Lucerne Festival Orchestra, sein »handverlesenes« Ensemble aus führenden internationalen Musikern, und 2004 das Orchestra Mozart in Bologna. Zu seinen DG-Veröffentlichungen mit dem Luzerner Orchester zählt eine Live-Aufnahme von Mahlers Symphonie Nr. 2 (»Auferstehungs-Symphonie«), und mit dem Orchestra Mozart spielte er eine bahnbrechende Sammlung mit geistlicher Musik von Pergolesi, Bachs Brandenburgische Konzerte sowie Symphonien und Konzerte von Mozart ein. Es gab weitere wichtige Veröffentlichungen: Anlässlich seines 80. Geburtstags im Juni 2013 brachte DG auf 41 CDs The Symphony Edition heraus, die die zentralen Werke des symphonischen Repertoires von Haydn und Mozart bis zu Bruckner und Mahler umfasst (diese Ausgabe wird in Form vier einzelner Boxen im Juni 2014 wiederveröffentlicht). Im selben Jahr erschien auf dem gelben Label auch Abbados Aufnahme von Schumanns Symphonie Nr. 2.

2014 kehrt das 2 CDs umfassende Berlin Album in den Katalog zurück, das erstmals 2002 erschien (und zurzeit vergriffen ist). Im Februar erscheint die 2013 entstandene Aufnahme von Mozarts Klavierkonzerten in d-moll KV 466 und C-dur KV 503 – unter Abbados Leitung spielen Martha Argerich und das exzellente Orchestra Mozart. Die darauf folgenden Monate werden neue Schätze bringen, darunter ein bislang unveröffentlichtes Konzert.

Ein eingehendes Interview in der Zeit, das ebenfalls anlässlich seines 80. Geburtstags erschien, brachte tiefe Einblicke in Abbados Einstellung zu Arbeit und Leben: »Musik«, sagte er, »hat für mich nichts mit Arbeit zu tun. Sie ist eine große, tiefe Leidenschaft.« Er erwähnte auch das Motto seines geliebten Großvaters: »Großzügigkeit macht reich.« Auf diese Großzügigkeit bezog sich auch Julia Spinola in ihrem Porträt des Dirigenten 2011 in der FAZ: »Abbado als einen ›gebenden‹ Musiker zu bezeichnen ist mehr als nur eine Metapher für seinen ungewöhnlich auratischen Dirigierstil und seine schon oft beschriebene sanft-beharrliche Art zu proben . . . Abbado beschenkt die Welt auch mit einer Orchestergründung nach der anderen . . . Abbado besitzt so etwas wie den grünen Daumen der Musik. Was immer er berührt, beginnt zu leben, gedeiht, blüht auf.« Ein Jahr später, als die Zeitschrift Gramophone Abbado in einer Liste der »50 Personen, die die klassischen Musikaufnahmen veränderten« nannte, schrieb Douglas Boyd: »Was Claudio zu einem großen Künstler macht, ist seine Menschlichkeit, seine ungewöhnliche Fähigkeit, den Klang des Orchesters mit einer einzigen Geste zu beeinflussen […] Seine Aufführungen können lebensverändernd wirken.«

Zu Claudio Abbados zahlreichen Auszeichnungen gehören das Bundesverdienstkreuz, das Kreuz der Ehrenlegion, die Mahler-Medaille sowie Ehrendoktorwürden der Universitäten von Cambridge, Ferrara, Aberdeen und Havanna. 2012 erhielt er von der Fachzeitschrift Gramophone einen Preis für sein Lebenswerk.

»Der Begriff ›großer Dirigent‹ hat keine Bedeutung für mich. Groß ist allein der Komponist.«  – Abbados Zusammenfassung seiner Position ist keine leere Rhetorik. Nach sorgfältiger Vorbereitung, zu der das Studium der Originalquellen und Notizen des Komponisten gehörten, dirigierte Abbado alles auswendig. Befreit von der physischen Präsenz der Partitur, war es vielleicht diese Fähigkeit, wirklich zuzuhören, die seine Aufführungen so einzigartig machte. In einem Interview mit The Guardian erklärte Abbado 2009: »Für mich ist zuhören das Wichtigste: einander zuhören, den Menschen zuhören, der Musik zuhören.«

1/2014

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