Alle Menschen haben Angst vor dem Tod. Doch ist er wirklich so schlimm? Verschwinden wir alle irgendwann im Nirgendwo?
Edward Elgar glaubte an die Verwandlung der Seele. Wenn die Seele den Körper verlässt, dann steigt sie in andere Gefilde auf. Sie wandert. Sie schreitet ihren Weg ab, sieht sich ständigen Bewährungsproben ausgesetzt und kann doch am Ende von allem Leid erlöst werden. Ein gewaltiger Stoff! Ein spirituelles Thema, das es in sich hat! Und welches Medium wäre besser geeignet als Musik, der schwer zu greifenden Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod Ausdruck zu verleihen?
Edward Elgar besaß die kreativen Mittel dazu, den Todeskampf der Seele in Musik zu gießen. “The Dream of Gerontius” ist der schlagende Beweis dafür. Das im Jahre 1900 uraufgeführte Oratorium gehört zu den gewaltigsten Chorwerken der frühen Moderne. Elgar griff für diese Arbeit auf ein bewegendes Gedicht von John Henry Newman zurück. Der tiefsinnige Kardinal beschrieb darin den von einem Schutzengel begleiteten Aufstieg der Seele ins Jenseits, wo die Herrlichkeit Gottes, ein unendlicher, ewiger Trost auf sie wartet.
Aber wer kann ein solches Werk heute noch glaubhaft aufführen? Wer lässt sich auf das Wagnis ein, über den Tod hinauszudenken und den unbekannten, angstbesetzten Gebieten unserer Phantasie musikalisch nachzuspüren? Daniel Barenboim hat es getan. Er hat sich eingefühlt in die religiöse Denkwelt Edward Elgars. Wie auch immer er zu dem Glaubensinhalt steht, der das Fundament von “The Dream of Gerontius” bildet, das spirituelle Feingefühl des argentinisch-israelischen Dirigenten ist in seiner Aufnahme stets spürbar.
Daniel Barenboim versteht es glänzend, dem Publikum mächtige musikalische Formen zu vermitteln. Das hat er bei Richard Wagner unter Beweis gestellt, und das demonstriert er jetzt bei Edward Elgar mit überwältigendem Erfolg. Dass Elgar von Wagner geprägt ist, kommt Daniel Barenboim dabei entgegen. Der britische Spätromantiker mischt opernhafte Elemente mit Prinzipien der geistlichen Musik. Die dramatische Dimension seines Oratoriums haucht dem religiösen Stoff Leben ein. Sie macht ihn anschaulich, verstehbar.
Damit dies gelingt, sind allerdings Künstler gefragt, die spirituelle Gefühle genauso gut darstellen können wie dramatische Momente. Daniel Barenboim bietet Solisten von Weltrang auf, die sich dieser Herkulesaufgabe gewachsen zeigen. Mit der ebenso gefühlsstarken wie erfahrenen Mezzosopranistin Catherine Wyn-Rogers, dem schon zu Lebzeiten zur Legende aufgestiegenen Bariton Thomas Hampson und dem jungen Meistertenor Andrew Staples hat Barenboim Sängergrößen an Bord, die allerhöchsten Ansprüchen genügen. Thomas Hampson singt den Priester mit ernster Inbrunst und stattet den Todesengel mit dämonischer Gewalt aus.
Andrew Staples verleiht dem sterbenden Gerontius eine berührend menschliche Gestalt. Und Catherine Wyn-Rogers gebiert einen Schutzengel, an den sich jeder gern anlehnte. Dazu die gewaltigen Gesänge des Staatsopernchors Berlin und des RIAS Kammerchors. Mitreißend ist das. Überwältigend! Daniel Barenboim beweist einmal mehr, dass er Edward Elgar tief durchdrungen hat. Seine Elgar-Serie mit der Staatskapelle Berlin findet auf diesem Weg eine grandiose Fortsetzung, und man darf gespannt sein, wenn Daniel Barenboim am 15. und 16. Juli bei den BBC Proms die erste und zweite Sinfonie von Edward Elgar aufführen wird.