Man glaubt ihr den Wahnsinn sofort. Als Lucia mit blutbeflecktem Kleid auf der Bühne erschien, nachdem sie gerade ihren Ehemann ermordet hatte, und milde lächelnd in der berühmten Wahnsinnsszene (“Ardon gli incensi”) sich mit ihrem eigentlichen Geliebten vereint glaubte, hatte sie es auf ein Neues geschafft.
Das Publikum der Metropolitan Opera ließ sich mitreißen von den Emotionen und feierte mit großem Zwischenapplaus seinen Star Joan Sutherland, eine der größten Sopranistinnen ihrer Generation in der Rolle, die sie berühmt gemacht hatte: Gaetano Donizettis “Lucia di Lammermoor”. Und die Kameras waren dabei, hielten die Aufführung vom Winter 1982 für die Nachwelt fest, so dass man auch nach einem Vierteljahrhundert noch an der Begeisterung der Menschen über eine einzigartige Sängerin und Darstellerin teilhaben kann. Ein legendäres Bühneneriegnis und die passende Belcanto-Folge für Kapitel sieben der Focus DVD-Edition 400 Jahre Oper.
Es ist eine der erstaunlichen Karrieren der Operngeschichte. Joan Sutherland, geboren 1926 bei Sydney, unterrichtet und gefördert von John und Aida Dickens, debütiert mit 21 Jahren in ihrer Heimatstadt mit der Titelrolle von Purcells “Dido and Aeneas”. Kaum in London zur weiteren Ausbildung angekommen, kann man sie am Covent Garden als 1.Dame in der “Zauberflöte” hören. Ihr Sopran fasziniert das Publikum und macht sie zur ersten Wahl für eine besondere Starbesetzung. Als 1953 Bellinis “Norma” mit Maria Callas in der Titelrolle inszeniert wird, bekommt Sutherland die Partie der Clothilde. Man wird über einzelne Theater hinaus auf Sutherland aufmerksam und sie bewährt sich bald als Aida, als Eva und Wagners “Die Meistersinger von Nürnberg” oder auch als Agathe in von Webers “Der Freischütz”. Der internationalen Durchbruch schließlich gelingt ihr im Jahr 1959. Ihr späterer Ehemann Richard Bonynge, damals noch Korrepetitor am Covent Garden, überredet erst sie selbst, dann den Verwaltungschef des Hauses, Sutherland eine Rolle aus dem 19. Jahrhundert singen zu lassen. Im Verborgenen proben die beiden, bis sich die Sängerin ihrer Sache sicher ist, und als ihr dann tatsächlich die Titelpartie von Donizettis “Lucia di Lammermoor” angetragen wird, bricht der Knoten.
Aus der lyrischen Sopranistin ist ein strahlender, beeindruckender Koloratursopran geworden, der das Publikum förmlich von den Sitzen reißt. Seit der Callas wurde nicht mehr so euphorisch applaudiert wie bei Sutherlands “Lucia”. Von da an geht es noch steiler bergauf als bisher schon. Im selben Jahr gastiert Sutherland in Wien, bald darauf in Genua, Venedig. Anno 1961 kann sie den Erfolg der “Lucia” an der Scala in Mailand wiederholen, wenig später in New York an der Met. Nicht zuletzt Donizettis melodramatische Figur verhilft ihr dazu, über mehr als dreißig Jahre hinweg eine der bedeutendsten Sopranistinnen ihrer Generation zu bleiben. So wundert es wenig, dass auch 1982 an der Metropolitan Opera in New York gerade diese Rolle der Liebling des Publikums ist. Nach den frühen Auftritten noch in der auf Lily Pons zugeschnittenen Inszenierung war das Werk 1964 von Margherita Wallmann neu gestaltet worden und auch die Wiederaufnahmen 1966, 1970 und 1982 basierten auf dieser Grundlage.
Sutherland fühlte sich sichtlich wohl in diesem Bühnenambiente, zumal ihr Ehemann Richard Bonynge am Orchesterpult dafür sorgte, dass auch die Musik ideal zu ihr passte. Als Partner hatte sie den Tenor Alfredo Kraus (Edgardo), der bereits 1959 zum ersten Mal an ihrer Seite gesungen hatte, außerdem den Bariton Pablo Elvira (Enrico), der 1978 zum ersten Mal an der Met zu hören gewesen war, und den erfahrenen Paul Plishka (Raimondo), der seit 1967 zum Ensemble des Hauses gehörte. Die Aufzeichnung selbst entstand am 13. November 1982 und dokumentiert eine betörende präsente Joan Sutherland, die nicht nur im lupenreinen Duett mit der Soloflöte oder dem berühmten Sextett im zweiten Akt, sondern auch bei weniger spektakulären Passagen durch makellose Stimmschönheit besticht. Für die Version auf DVD im Rahmen der Reihe Focus Edition 400 Jahre Oper wurde die Musik außerdem für Dolby Digital 5.1 bzw. DTS 5.1 Surround-Sound remastered, so dass man neben dem bewährten Stereo-Sound die Oper mit dem Raumgefühl der Met erleben kann.
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