Liebe kann grausam sein, besonders, wenn sie mit Betrug verknüpft ist. In Gaetano Donizettis “Lucia di Lammermoor” wird der Titelheldin ordentlich mitgespielt, damit sie den angebetenen Edgardo nicht ehelichen kann. Das Drama endet in Wahnsinn, Tod und Suizid, ein Bühnespektakel ganz nach dem Geschmack des 19. Jahrhunderts. Und es hat reichlich Emotionen zu bieten, an denen sich eine Lucia stimmlich bewähren kann. Wie Joan Sutherland, die zu den zeitlosen Größen dieser Rolle zählt.
Es ist eine der erstaunlichen Karrieren der Operngeschichte. Joan Sutherland, geboren 1926 bei Sydney, unterrichtet und gefördert von John und Aida Dickens, debütiert bereits mit 21 Jahren in ihrer Heimatstadt mit der Titelrolle von Purcells “Dido and Aeneas”. In den Höhen singt sie etwas scharf, insgesamt uneinheitlich im vokalen Erscheinungsbild, aber enorm charismatisch. Es wundert daher wenig, dass sie, kaum in London zur weiteren Ausbildung angekommen, bereits am Covent Garden als 1.Dame in der “Zauberflöte” zu hören ist. Ihr Sopran fasziniert das Publikum und macht sie zur ersten Wahl für eine besondere Starbesetzung. Als 1953 Bellinis “Norma” mit Maria Callas in der Titelrolle inszeniert wird, bekommt Sutherland die Partie der Clothilde. Erfolg setzt ein, sie bewährt sich als Aida, Amelia (“Ein Maskenball”, Verdi), Eva (“Die Meistersinger von Nürnberg”, Wagner), Agathe (“Der Freischütz”, von Weber). Der Durchbruch jedoch kommt im Jahr 1959. Ihr späterer Ehemann Richard Bonynge, damals noch Korrepetitor am Covent Garden, überredet erst sie selbst, dann den Verwaltungschef des Hauses, Sutherland eine Rolle aus dem 19. Jahrhundert singen zu lassen. Im Verborgenen proben die beiden, bis sich die Sängerin ihrer Sache sicher ist, und als ihr dann tatsächlich die Titelpartie von Donizettis “Lucia di Lammermoor” angetragen werden, passiert die Überraschung. Aus der lyrischen Sopranistin ist ein strahlender, beeindruckender Koloratursopran geworden, der das Publikum förmlich von den Sitzen reißt. Seit der Callas wurde nicht mehr so euphorisch applaudiert wie bei Sutherlands “Lucia”.
Von da an geht es noch steiler bergauf als bisher schon. Im selben Jahr gastiert Sutherland in Wien, bald darauf in Genua, Venedig. Anno 1961 kann sie den Erfolg der “Lucia” an der Scala in Mailand wiederholen, wenig später in New York an der Met. Nicht zuletzt Donizettis melodramatische Figur verhilft ihr dazu, über mehr als dreißig Jahre eine der bedeutendsten Sopranistinnen ihrer Generation zu bleiben. Und wenn man die Aufnahmen hört, die im Juli und August 1961 an der Accademia di Santa Cecilia in Rom gemacht wurden, dann wundert das wenig. Denn Sutherland litt und jubelte, phantasierte und delirierte mit mitreißender Intensität (obwohl sie während der Zeit von einer unangenehmen Nebenhöhlenerkrankung geplagt wurde). Sie hatte großartig Partner an ihrer Seite, Robert Merrill als Enrico, Renato Ciono als Edgardo und die Hausensembles der Academia unter der Leitung von Sir John Pritchard. Allesamt ausführlich mit Donizetti und den nötigen Stimmungen der italienischen Oper vertraut, entstand auf diese Weise eine Einspielung, die ihresgleichen sucht. “Trotz aller späteren Leistungen [Sutherlands] bleibt diese frühe Lucia etwas Besonderes”, konnte man im Branchenmagazin Gramophone lesen. Ein Urteil, das sich anhand der Wiederveröffentlichung der “Lucia” im Rahmen der CD-Reihe “Legends – Legendary Performances” der Decca ohne Weiteres nachvollziehen lässt.
Die Referenz:
“Eine Paraderolle der Sutherland: Eigensinnig in der musikalischen Formulierung, exaltiert im Ausdruck, perfekt in der dramatischen Koloratur war sie wohl die beste Lucia seit der Callas. Auch wegen Cionis Edgardo eine Aufnahme, die Bestand hat.” (Hermes Opernlexikon)
Näheres zur Referenz-Reihe unter http://www.referenzaufnahmen.de