Als er noch Kind war, spielte er alles auf dem Klavier: Er improvisierte nach Lust und Laune, rekonstruierte frei aus dem Kopf, was er irgendwo gehört hatte, widmete sich dem Tango, der populären und der klassischen Musik. „Ich machte so eine Art Crossover“, gibt Nelson Freire in einem jüngeren Interview lachend zu Protokoll. Aber was er da so überaus bescheiden sagt, ist mehr als nur ein Gemeinplatz. Es ist ein Hinweis darauf, was er unter Musik versteht und wie er auch heute noch musiziert. Die Musik muss leben. Sie darf nicht trocken klingen. Sie benötigt Spannung und Vielfalt.
Seine Klavierlehrerin, von der er noch heute mit tiefer Verehrung und Dankbarkeit spricht, muss gespürt haben, wohin der junge Nelson will. Lucia Branco, die bei dem Liszt-Schüler Arthur de Greef gelernt hatte, führte ihn ans romantische Repertoire heran und forderte ihm gleich alles ab. Über Beethovens Klavierkonzerte gab sie ihm zu bedenken: „Nimm keines der ersten drei, spiele Nr. 4 oder 5! Das ist der echte Beethoven!“, und im Alter von 12 Jahren spielte er bereits das gewaltige Klavierkonzert Nr. 5 von Beethoven.
Wenn er dieses Konzert jetzt erneut einspielt, dann schließt sich für Nelson Freire ein Kreis. Zugleich öffnet sich aber ein neues Feld, denn der Brasilianer plant gemeinsam mit Riccardo Chailly und dem Leipziger Gewandhausorchester einen Beethoven-Zyklus mit sämtlichen Klavierkonzerten des kompositorischen Giganten. Und dass er hiermit Maßstäbe setzen kann, untermauert seine jüngste Aufnahme des fünften Klavierkonzerts, die er auf seinem neuen Album mit Beethovens letzter Klaviersonate kombiniert hat.
Nelson Freire lässt mit seinem energischen Zugriff auf die Tasten die ganze heroische Kraft von Beethovens fünftem Klavierkonzert hervortreten. Man spürt allenthalten den rebellischen Furor dieser Musik. Zugleich entfaltet sich in Freires Spiel in äußerst feinen Abstufungen der enorme Farbreichtum dieser Komposition. Freire liebt den Klang des Gewandhausorchesters, das ihm alle Möglichkeiten gibt, seinen kristallinen Stil zur Geltung zu bringen.
Mit Dirigent Riccardo Chailly ist Nelson Freire schon lange bekannt. Die beiden kommunizieren in der Musik miteinander, und das hört man dieser Aufnahme in all ihren Details an. Beethovens letzte Klaviersonate spielt Freire mit strenger Entschlossenheit und Klarheit. So birgt er auch diesen von Beethovens Schätzen, und wenn man das jetzt hört, dann versteht man auf Anhieb, warum die Feuilletons in jüngster Zeit immerzu von der Ehrlichkeit dieses Pianisten schwärmen.
“Radio Rays” ist eine Decca-Trouvaille der allerfeinsten Sorte. Das Album versammelt Konzerte, die Nelson Freire zu Beginn seiner Kariere in Europa gab. Ausgestrahlt in den Jahren 1968 bis 1979, lassen die Radio-Aufnahmen einen begnadeten Performer wiedererstehen. Nelson Freire demonstriert bei diesen Auftritten eindrucksvoll, dass er energische Vollgriffigkeit genauso beherrscht wie lyrische Passagen. Und vor allem versteht er es, schnell umzuschalten. Er ist ein Meister der Kontraste, und er bringt eine Klangkomponente des romantischen Repertoires ans Licht, die manchmal hinter der feinen, zerbrechlichen Lyrik zu verschwinden droht: das ringende, kämpfende Moment, wie es bei Beethoven zum guten Ton gehört. Aber dass man so auch andere Romantiker spielen kann, den Beweis hat Freire gebracht. So spannungsgeladen, so radikal und leidenschaftlich wie auf diesen Radio-Aufnahmen hat man Chopin, Tschaikowski, Liszt, Rachmaninoff und Prokofjew lange nicht gehört.