Es gehört zu den spannenden Nebeneffekten eines Jubiläumsjahrs, dass sich aus gegebenem Anlass sehr unterschiedliche Künstler mit einem Thema beschäftigen und ihm immer neue Facetten abgewinnen. Hört man Chopin mit den Ohren Alice Sara Otts, klingt er ganz anders als etwa ein Chopin à la Pollini oder eine historisches Sicht nach Art von Martha Argerich oder Friedrich Gulda. Viel Lob bekam beispielsweise bereits Nelson Freire für seine erste Folge mit Aufnahmen von Chopin-Werken, die sich späten Etüden und der zweiten Sonate widmete. Nun hakt er nach, im ersten Teil des Features mit den frühen „12 Études, op.10“, der „Barcarolle, op.60“ und der „Sonate b-Moll, op.35“, kommende Woche mit einer famosen Neuaufnahme der „Nocturnes“.
Die Etüde hatte im frühen 19. Jahrhundert keinen besonders anspruchsvollen Ruf, war sie doch zumeist das, was ihr Name verhieß: eine Übung. So spielte man Czerny, Clementi und auch manche andere Fingerschulung, wurde aber fürs wirklich komplizierte an Sonaten oder gleich Konzerte verwiesen. Frédéric Chopin nun änderte diese Situation. Denn bereits als junger Mann – und außerdem bereits hoch angesehener Pianist – komponierte er die „12 Études, op.10“ im Jahr 1829. Da war er gerade 19 geworden und gab der Klavierwelt bereits Aufgaben auf, die in den folgenden Jahren Maßstäbe setzten. Sicher, es gab auch Spötter, die das nicht anerkennen wollten. So meinte der deutsche Kritiker Rellstab in einer Besprechung: „Alle Besitzer von verrenkten Fingern können sie wieder in richtige Stellung ringen, indem sie diese Etüden üben; aber alle Menschen mit geraden Fingern sollten sich hüten, sie zu spielen. Wenigsten nicht, wenn kein Chirurg zur Hand ist“.
So oder so wurden die Chopin’schen Etüden zu Gradmessern der musikalischen Ausdrucksfähigkeit, denn über die reine Geläufigkeit hinaus dokumentierten sie von den kühnen Harmonien über die irrwitzigen Arpeggien über die ganze Tastatur bis hin zum Impetus der „Revolutions-Etüde“ eine neue Zeit des Pianistischen, die damit angefangen hatte. Nelson Freire nimmt sie als Ausgangspunkt einer persönlichen Sicht der Klangwelt des polnischen Komponisten. Denn der brasilianische Virtuose arbeitet gerade das Nicht-Etüdenhafte heraus, die außergewöhnlichen Klangfärbungen und faszinierenden harmonischen und rhythmischen Feinheiten, die jenseits der Geläufigkeit den Charme und die Kraft dieser Kompositionen ausmachen.
Der zweite Schwerpunkt seines Programms ist die komplexe, reife Sonate in b-Moll, die Chopin 1837 komponierte und deren dritter Satz „marche funèbre“ aufgrund seines bewegenden Pathos' zu einem der bekanntesten Klavierstücke des 19. Jahrhunderts werden sollte. Bindeglied zwischen diesen beiden Polen ist die „Barcarolle“ aus dem Jahr 1845/46, die zum einen nocturnehaft zart mit den Stimmungen spielt, auf der anderen Seite aber wie eine kompakte Conclusio von Chopins Gestaltungskunst erscheint. So schlägt Nelson eine große Brücke über die verschiedenen Schaffensphasen des Komponisten hinweg und gibt den Stücken einen ebenso wesentlichen wie fein nuancierten Charakter. Eine weiterführende Stellungnahme zu einem der Kernkomplexe des Oeuvres fasst er darüber hinaus in einer sensationellen Neueinspielung der „Nocturnes“ zusammen, die als Gattung zu den ureigenen Erfindungen des Komponisten gehören (die Besprechung folgt kommende Woche bei KlassikAkzente.de).