Man hat Sergei Rachmaninoff den letzten Romantiker genannt, und solange man nicht wusste, dass noch einige andere nachkommen würden, hatte dies durchaus seinen guten Sinn. Rachmaninoff (1873–1943) hielt eisern an der Tonalität fest. Er blieb melodiös und verteidigte gegen alle möglichen Formen der Abkühlung und Formalisierung den expressiven Sinn von Musik. Musik, so könnte man das Credo seines Schaffens zusammenfassen, darf eingängig sein, sie braucht nicht intellektuell oder gar experimentell zu klingen, und sie muss gefühlvoll bleiben. Musik, die mit seelischen Regungen des Menschen in keinerlei Verbindung steht, ist tot.
Gesteigerte Romantik
Rachmaninoff war musikalisch in der Tat ein Kind des 19. Jahrhunderts. Er verdankt sich zutiefst der Epoche, die man die romantische genannt hat. Aber war er deshalb schon altmodisch? War er, was man ihm vorgeworfen hat, ein Anachronist, der an Dingen festhielt, die keine Zukunft haben? Darin wäre ein Fünkchen Wahrheit, wenn er der Romantik nichts hinzugefügt hätte, wenn er ein bloßer Nachahmer, ein Epigone gewesen wäre. Aber Rachmaninoffs Klaviermusik ist eine Steigerung und Intensivierung der Klavierkunst des 19. Jahrhunderts. Er treibt sie auf die Spitze. Er reizt das sentimentale Potential der Romantik aus und fügt ihr weitere Klangfarben hinzu. Herrscht bei Chopin stets noch eine gewisse Kontrolle über das Pathos vor, sind Chopins Melodien zwar eingängig, aber keinesfalls volkstümlich, so geht Rachmaninoff in all diesen Dimensionen stets noch einen Schritt über Chopin hinaus.
Ashkenazys Mut zum Pathos
Eine so grenzsprengende Gefühlskunst wie diejenige Rachmaninoffs benötigt Interpreten, die keine Angst vor Pathos haben. Zugleich erfordert sie jedoch Musiker, die das Pathos dieser Kompositionen nicht verdoppeln, denn Rachmaninoffs Klavierwerke haben keine Verstärkung nötig. Sie verlangen eher nach Anschmiegung. Und hierin liegt die Größe der eindrucksvoll bescheidenen Künstlerpersönlichkeit Vladimir Ashkenazys. Er fügt sich mit seiner ganzen Person und pianistischen Meisterschaft in die Musik Rachmaninoffs ein. Er vollzieht sie Schritt für Schritt nach. Schier unglaublich ist, wie er in der Klaviersonate Nr. 2 den explosiven Anfang des Allegro agitato in der gebotenen Lautstärke und zugleich so präzise spielt, dass man die Akkorde nicht als Gesamtklang wahrnimmt, sondern alle Töne gleichzeitig zu hören meint.
Ashkenazy, dessen Hände für einen männlichen Pianisten ungewöhnlich klein sind, hielt die Beherrschung des zweiten Klavierkonzerts als junger Mann für unmöglich. Er hat sich bei all seiner ungewöhnlichen Begabung die Klavierwerke Rachmaninoffs wahrscheinlich Detail für Detail aneignen müssen, und hierin könnte, neben der romantischen Haltung des Pianisten, der Grund dafür liegen, warum er die Klangfarben Rachmaninoffs so präzise herausarbeitet und dem russischen Spätromantiker damit so kongenial auf die Spur kommt.
Romantische Haltung
Ashkenazy hält Rachmaninoffs Klaviermusik für lebendig, nicht obwohl sie romantisch ist, sondern weil sie romantisch ist. Und das heißt für ihn, dass sie etwas ausdrückt, was grundlegend für das menschliche Leben ist. Rachmaninoffs Musik bedeutet für Ashkenazy vor allem Großzügigkeit des Ausdrucks. Im Frühwerk sprühe diese Musik vor Lebensfreude. In den mittleren und späteren Werken verschließe sie sich dann mehr und mehr und bringen, dem Seelenzustand des in den USA nicht heimisch werdenden Komponisten entsprechend, mit ungeheuerer „idiomatischer Beredsamkeit“ dunkle Gefühle zum Ausdruck. „Wenn das“, so Ashkenazy in einem Filminterview, „keine grundlegenden Elemente unseres Lebens sind, dann weiß ich nicht, welche es sind.“
Die limitierte Edition “Vladimir Ashkenazy: Rachmaninoff – Sämtliche Werke für Klavier” (11CDs) erscheint am 07.02. Sie beinhaltet glänzende Aufnahmen mit dem London Symphony Orchestra unter André Previn sowie dem Concertgebouw Orchestra und dem Philharmonia Orchestra, beide geleitet von Bernard Haitink.