Nicht ohne trotzigen Spott beschreibt
Charles Ives in seinen Aufzeichnungen den Versuch eines angesehenen Geigers, seine erste Violinsonate zu spielen: “Der ‘Professor’ trat ein und begann nach einer großspurigen Rede, den ersten Satz der ersten Sonate zu spielen. Jedoch kam er nicht einmal bis zum Ende der ersten Seite. Er schlug sich mit den Rhythmen und Noten herum bis er schließlich wütend wurde und sagte: ‘Das kann man nicht spielen. Es ist schrecklich. Das ist keine Musik, das macht keinen Sinn.’ Auch nachdem ich es mehrere Male vorgespielt hatte, gelang es ihm nicht. Ich erinnere mich, dass er, beide Hände auf die Ohren gepresst, aus dem kleinen Musikzimmer kam und rief: ‘Wenn man von einem ungenießbaren Essen im Magen gequält wird, kann man sich dessen wenigstens entledigen. Diese fürchterlichen Klänge aber gehen mir nicht mehr aus den Ohren!’”
Herausforderung für Hilary HahnDerartig ablehnende Reaktionen auf Ives' Musik sollten seltener werden, und bald erkannte man ihn weithin als bedeutendsten Komponisten der amerikanischen Geschichte an. Doch seine Violinsonaten werden bis heute noch vergleichsweise selten aufgenommen und im Konzert gespielt. Dank des jüngsten Aufnahmeprojekts von Violinistin
Hilary Hahn und Pianistin
Valentina Lisitsa wird sich das möglicherweise ändern, denn für
Deutsche Grammophon haben endlich zwei Musikerinnen von Weltformat
vier Violinsonaten von Charles Ives eingespielt. Dabei war auch ihre erste Auseinandersetzung – mit der dritten Violinsonate – keineswegs leicht, berichtet
Hilary Hahn. Denn vor allem die komplexe Rhythmik und die innovativen Strukturen der Musik forderten die Musikerinnen heraus. “Es war, als müssten wir einen musikalischen Code entziffern, von dem wir nur einzelne Bruchstücke kannten.”
“Mehr Ives!”, verlangt das PublikumDie auch nach dem kleinschrittigen Prozess des Einstudierens anhaltende Faszination des Stücks bewegte die befreundeten Musikerinnen, es 2008 mit auf Welttournee zu nehmen, um die
Reaktionen des Publikums zu testen. “Und überall sagte uns das Publikum – für das diese vor 100 Jahren komponierte Sonate eine Neuentdeckung war -, dass es gerne mehr Ives hören möchte. Also setzten wir in der nächsten Saison die übrigen Ives-Sonaten (Nr. 1, 2 und 4) auf unser Tourneeprogramm.” Schließlich fassten beide den Entschluss, sich im Rahmen einer
Gesamtaufnahme noch einmal in die eigentümliche Klangwelt zu versenken, deren Faszination und Modernität von der kompositorischen Vielseitigkeit herrührt, die Charles Ives im Verlauf seines Lebens erwarb.
Die Ives’sche Musiksprache Der 1874 geborene und 1954 gestorbene Komponist hatte sich mit
vier musikalischen Traditionen intensiv beschäftigt. Durch die Arbeit seines Vaters als Musiker wuchs er mit der
amerikanischen Unterhaltungsmusik, dem Ragtime, patriotischen Gesängen und den Songs der Tin Pan Alley auf. Dazu kam die
protestantische Kirchenmusik, die Ives als Junge im Gottesdienst gehört und als junger Organist und Komponist auch komponiert hatte. An der Universität Yale, wo er im Rahmen seines Studium generale auch Musikkurse besuchte, unterwies ihn sein Lehrer Horatio Parker in der Theorie der
europäischen Kunstmusik. Und hier intensivierte und systematisierte Ives auch seine bereits seit den Teenagerjahren bestehende Neigung zur
experimentellen Musik. In seinen reifen Kompositionen bezog Charles Ives Elemente dieser vier Traditionen aufeinander und verband sie zu einer neuartigen Sprache, die er in die formalen Konventionen und Gattungen der europäischen Kunstmusik einbettete.
Ein Komponist für das 21. JahrhundertAuch die Mitte der 1920er Jahre vollendeten Violinsonaten sind Produkte dieser spezifisch Ives’schen Anverwandelungsarbeit. Sie beziehen Motive aus dem Ragtime und Melodien des Fiddle-Stils ein, nutzen herkömmliche Satztechniken und beschreiten harmonisches Neuland, verbinden religiöse Hymnen mit Elementen der freien Fantasie, setzen pastorale Schlichtheit neben herbe Dissonanzen. Im
Abwechslungsreichtum dieser Musik spiegeln sich unsere heutigen Erfahrungen in einer von zunehmender
Vermischung und Entgrenzung der Kulturen geprägten Welt. Und die von Hilary Hahn beschriebene Erfahrung des Spielens dieser Musik passt auch in die Erlebenswelt heutiger Hörer: “Ives ist so spannend zu spielen, weil er seinen Interpreten immer das Gefühl gibt, dass etwas Konkretes oder Spannendes vor sich geht, gerade geschehen ist oder gleich passieren wird.” Dank des
puristischen Klangbildes der Aufnahme, das auf Halleffekte weitgehend verzichtet, wird die Intensität der musikalischen Auseinandersetzung von
Hilary Hahn und Valentina Lisitsa in der Bemühung, die vibrierende Lebendigkeit der Musik von Charles Ives zu vermitteln, plastisch gemacht.