Es hätte auch anders kommen können. Als junges Mädchen war sich Joan Sutherland gar nicht sicher, ob sie eines Tages die großen Bühnen der klassischen Welt besteigen könnte. Sie lernte Steno und Schreibmaschine, tippte während ihres Studiums unzählige Wetterberichte und hoffte auf die richtige Gelegenheit, den Absprung zu schaffen. Sie kam nach manchen guten Ansätzen in Gestalt des Dirigenten Richard Bonynge, der ihrer Karriere nicht nur den nötigen Anstoß gab, sondern auch ihr Ehemann wurde. So ist eine Box mit “The Art Of Joan Sutherland” immer auch ein wenig die Dokumentation einer Künstlerehe, die der Musikwelt zu zahlreichen großartigen Momenten verhalf.
Es ist eine der erstaunlichen Karrieren der Operngeschichte. Trotz der anfänglichen Zweifel stand Joan Sutherland, geboren 1926 bei Sydney, unterrichtet und gefördert von John und Aida Dickens, bereits mit 21 Jahren in ihrer Heimatstadt mit der Titelrolle von Purcells “Dido and Aeneas” auf der Bühne. In den Höhen sang sie damals noch etwas scharf, insgesamt uneinheitlich im vokalen Erscheinungsbild. Aber ihre Stimme hatte etwas Besonderes, ein emotionale Ausstrahlung, die die Menschen zu faszinieren verstand. Es wundert daher wenig, dass sie, kaum in London zur weiteren Ausbildung angekommen, bereits am Covent Garden als 1. Dame in der “Zauberflöte” zu hören war. Ihr Sopran faszinierte das Publikum und machte sie zur ersten Wahl für eine Starbesetzung. Als 1953 Bellinis “Norma” mit Maria Callas in der Titelrolle inszeniert wurde, bekam Sutherland die Partie der Clothilde. Erfolg setzte ein, sie bewährte sich daraufhin als Aida, Amelia (“Ein Maskenball”, Verdi), Eva (“Die Meistersinger von Nürnberg”, Wagner – “viel zu früh in meiner Entwicklung”, wie sie später meinte) und Agathe (“Der Freischütz”, von Weber). Der Durchbruch jedoch kam im Jahr 1959. Ihr späterer Ehemann Richard Bonynge, damals noch Korrepetitor am Covent Garden, überredete erst sie selbst, dann den Verwaltungschef des Hauses, Sutherland eine Rolle aus dem 19. Jahrhundert singen zu lassen. Im Verborgenen probten die beiden, bis sich die Sängerin ihrer Sache sicher war, und als ihr dann tatsächlich die Titelpartie von Donizettis “Lucia di Lammermoor” angetragen wurde, gelang die Überraschung. Aus der lyrischen Sopranistin war ein strahlender, beeindruckender Koloratursopran geworden, der das Publikum förmlich von den Sitzen riss. Seit der Callas wurde in London nicht mehr so euphorisch applaudiert wie bei Sutherlands “Lucia”.
Von da an ging es noch steiler bergauf als bisher schon. Im selben Jahr gastierte Sutherland in Wien, bald darauf in Genua, Venedig. Anno 1961 konnte sie den Erfolg der “Lucia” an der Scala in Mailand wiederholen, wenig später in New York an der Met. Nicht zuletzt Donizettis melodramatische Figur verhalf ihr dazu, über mehr als dreißig Jahre eine der bedeutendsten Sopranistinnen ihrer Generation zu bleiben, auch wenn die Bandbreite ihres Repertoires stetig zunahm. Als es daher an die Zusammenstellung der CD-Box “The Art of Joan Sutherland” ging, war die Künstlerin, die sich 1990 von der Bühne zurückgezogen hatte, selbst überrascht, was alles aus den Archiven der Decca zutage gefördert wurde. “Es machte mir ein enormes Vergnügen und war, ganz ehrlich, eine besonderes Hochgefühl, als ich die Liste der Arien durchlas, die in dieser 6CD-Box enthalten sein sollten. Sie führten mich direkt in die 60er Jahre zurück und führten die Linie weiter über die mehr als 30 Jahre hinweg, während denen ich Platten aufgenommen habe. Viele Stücke lernte ich dabei speziell für die Studiotermine, aber ebenso viele sang ich unzählige Male im Theater. […] Ein große Überraschung war dabei die Wiederentdeckung von sechs französischen Liedern. Weder Robert noch ich hatten eine Aufnahme davon oder überhaupt eine Ahnung, dass sie noch existierten. Was für eine Freude!” Und so hat die Compilation The Art of Joan Sutherland nicht nur berühmte und grandiose Arien von Händel über Mozart bis Wagner, Offenbach und Meyerbeer zu bieten, sondern auch eine kleine Weltpremiere mit sechs bislang unveröffentlichten Liedern (Delibes, Gounod, Massenet, Bizet, Fauré), die 1969 in Genf gemeinsam mit Richard Bonynge am Klavier entstanden waren.