Ein regnerischer Abend im dunkleren Teil von Kreuzberg, gefühlt schon wie November, doch die Schlange vor dem Prince-Charles-Club reicht quer durch den Hinterhof, bis zur Straße hin. Junge Russinnen unterhalten sich gestikulierend, bärtige Studenten und elegante Damen warten geduldig auf den Einlass. Auf die Hauswand ist vor gelbem Hintergrund eine Briefmarke projiziert, darauf ein Mann mit Perücke: Aha, Händel. Heute tritt hier die junge, russische Koloratur-Sopranistin Julia Lezhneva (sprich: Leschnewa) auf. Ihr neues Album “Händel” lässt die frühe Schaffensphase des Barockgiganten Revue passieren, mit Werken aus dem frühen 17. Jahrhundert, als der 23-jährige Händel (nachdem er sein Jura-Studium schmiss) von Hamburg aus nach Italien aufbrach, um dort Opern und geistliche Werke zu komponieren. Ach ja, Bella Italia…
Der Club befindet sich in einem ehemaligen Schwimmbad, die Leute sitzen auf dem (gepolsterten) Beckenrand wie auf einer Bühne, schauen sich gegenseitig an, was das Warten auf Lezhneva ganz kurzweilig macht. Die mit zahlreichen Preisen dekorierte, junge Sängerin hat schon alle möglichen großen Bühnen besungen, ist mit Stars wie Placido Domingo und Juan Diego Flórez aufgetreten – aber noch nie in einem kleinen Club, einen Meter von ihren Zuhörern entfernt, ohne Raumakustik. Nachdem das eben noch lärmende und trinkende Publikum die Sängerin mit einem warmen erwartungsvollen Applaus willkommen heißt, betritt Lezhneva schließlich die Bühne und legt los.
Begleitet vom Pianisten Mikhail Antonenko setzt sie den Hörer auf eine Achterbahn zwischen brillanten Bravour-Stücken voller toller stimmlicher Attacken und kontemplativen geistlichen Werken. Den halsbrecherischen Koloraturen von Vivaldi und Karl Georg Graun folgt die verzaubernde Kraft der barocken Kirchenmusik, etwa mit den getragenen Noten von “Tu del Ciel ministro eletto” aus einem Oratorium Händels, ein Vorgeschmack ihres neuen Albums.
Nackter, direkter und schutzloser kann sich ein Künstler nicht mehr präsentieren, doch Lezhneva dominiert das mit einer natürlichen Präsenz, die Hingabe an ihr Repertoire erhebt sie über jede Unsicherheit. Mit glasklarer Stimme überwindet die Sopranistin mit den unglaublich kleinen Händen die schwierige Raumakustik. Ihre jugendliche, frische und herzliche, aber auch ganz klare und konsequente Art zieht die Aufmerksamkeit geradezu physisch, magnetisch an. Das Yellow-Lounge-Publikum hängt an ihren Lippen.
Die Werke Händels auf ihrem neuen Album kennzeichnen Ideen von Freiheit, Experiment und Jugend, so hat Lezhneva selbst ihr neues Album beschrieben, und kongenial verkörpert sie diesen Künstlergeist aus einer Epoche, in der sich Aufklärung und Absolutismus in Europa gegenüberstanden. In diesem ungewöhnlichen Club-Setting, unter der gelben Sonne der Yellow Lounge, reißt sie mit ihrem Italo-Barock den Zuhörer aus dem Herbst-Blues heraus. Nach frenetischem Beifall und diversen Zugaben, steht sie glühend mit Antonenko hinter der Bühne im fahlen Neonlicht, zwei junge Russen, die sich über ihr gelungenes Abenteuer freuen.