Das Toblacher Gustav-Mahler-Komitee gibt bekannt: Der internationale Schallplattenpreis “Toblacher Komponierhäuschen 2005” geht in der Kategorie “Neuproduktion” an die Aufnahme der Symphonie Nr.6 mit Claudio Abbado bei der Deutschen Grammophon und in der Kategorie “Sonderpreis” an die Decca-Produktion der Mahler-Symphonien mit Riccardo Chailly.
Claudio Abbados zweite Aufnahme von Mahlers 6.Sinfonie nach 1979 basiert auf einem Berliner Konzert im Juni 2004: Es war die erste Rückkehr Abbados ans Pult der Berliner Philharmoniker nach seinem Abschied als Chefdirigent im Jahr 2002. Insbesondere die parallel zur CD veröffentlichte DSD-Mehrkanalversion auf Super Audio CD vermittelt ein realistisches Abbild der Raumakustik und der besonderen Atmosphäre dieses Konzerts. Wie schon in seinen früheren Mahler-Interpretationen, bemüht sich Abbado auch bei der dämonischen Sechsten um ein hohes Maß an “Objektivität” und legt mit präziser emotionaler Kontrolle die strengen Architekturen, aber auch die vielen “schönen Stellen” und idyllischen Momente dieser lärmenden Symphonie des Grauens frei: Er versucht, hinter der Maske des Horrors die tief positiven Fundamente der Mahlerschen Philosophie herauszuarbeiten. Daß eine solche Vergeistigung der “Schrecken der Wirklichkeit” die theatralischen Aspekte dieses stark ichbezogenen Werks in den Hintergrund rückt, ist fast unvermeidlich, doch Abbado zieht es vor, vier Episoden des Mahlerschen Gedankenkosmos minutiös auszuleuchten, als uns mit Schrecken und Pathos zu überrumpeln. So bezieht er eine sehr überzeugende, eigenständige, tiefschürfend-ernsthafte Gegenposition zu der bei diesem Werk vorherrschenden romantisch-drastischen Aufführungstradition und enthüllt dessen strukturelle Modernität.
Just mit Mahlers großer Abschiedssymphonie beendete Riccardo Chailly im Juni 2004 sein 16jähriges Wirken beim Amsterdamer Concertgebouworkest und brachte damit zugleich seinen in jeder Beziehung vorbildlichen und bereits 1986 in Berlin in Angriff genommenen Mahler-Zyklus zu einem wirklich krönenden Abschluß. Denn auch in dieser letzten Folge seines “für die Ewigkeit” konzipierten Mahler-Unternehmens bleibt der opernerfahrene Italiener seiner ästhetischen Grundlinie treu, und kultiviert ganz bewusst die Schönheiten und die melodischen Sogkräfte der Mahlerschen Orchesterpolyphonie. Das hat nichts mit platter Schönfärberei zu tun, sondern vielmehr mit der weisen Erkenntnis, dass Mahlers komplexe Weltsicht keines zusätzlichen intellektuellen “Drucks” von außen bedarf, und man folglich mit einer solchen durchaus romantischen und ungemein sorgfältigen Annäherung über den Wohllaut des Tiefempfundenen und bedächtig Ausformulierten viel weiter einzudringen vermag auch in die Abgründe von Mahlers Seelenseismographie . Trotz einer für heutige Begriffe unglaublich langen Entstehungszeit von fast 20 Jahren präsentiert sich Chaillys Mahler-Zyklus im Zusammenhang wie aus einem Guss: In seiner bedächtigen interpretatorischen Genese dokumentiert er zudem in durchwegs akustisch hochwertigen Klangbildern Chaillys eigenen Reifeprozeß zu einem bedeutenden Mahler-Dirigenten.