Riccardo Chailly ist ein Genie. Der italienische Dirigent verbindet Eigenschaften, die man sonst nur getrennt antrifft.
Vornehme Distanz und heftigste Leidenschaft, Intelligenz und Gefühl bilden bei dem italienischen Dirigenten keine Gegensätze, sondern eine Einheit. Der 1953 in Mailand geborene Dirigent kennt keine Scheuklappen. Er ist eine neugierige Künstlerpersönlichkeit par excellence. Riccardo Chailly lässt sich nicht vorschnell festlegen. Er schaut in alle Richtungen und erprobt in aller Ruhe die Möglichkeiten eines Orchesterklangs. Dabei kann er sich auf seine untrügliche Intuition verlassen. Das richtige Ergebnis wird schon gefunden.
Man muss nur lange genug suchen. Mit dieser ebenso kompromisslosen wie offenherzigen Haltung hat dieser leidenschaftliche Dirigent, der seine musikalische Grundausbildung noch bei seinem Vater erhielt und sich in den siebziger Jahren von Claudio Abbado formen ließ, seine Spuren bei renommierten Traditionsorchestern hinterlassen. An der Mailänder Scala konnte Chailly bereits mit Anfang 20 grundlegende Dirigentenerfahrungen sammeln.
Nur wenige Jahre später machte er an großen Opernhäusern weltweit mit vorzüglichen Klangergebnissen von sich reden. Als er 1982 zum Deutschen Symphonie-Orchester nach Berlin kam, wo er bis 1989 als Chefdirigent wirkte, konnte er bereits aus dem Vollen schöpfen. Er hatte jetzt eine gewisse Reife erlangt. Zugleich wehte ihm noch ein jugendlicher Furor nach, der ihn mit Begeisterung auf romantische und spätromantische Komponisten wie Anton Bruckner oder Gustav Mahler blicken ließ.
In diese Jahre und die darauf folgenden, die er beim Concertgebouw-Orchester in Amsterdam verbrachte, fallen Chaillys gefeierte Bruckner-Aufnahmen. Sie liegen jetzt in Deccas eloquence-Edition “Anton Bruckner: 10 Symphonien” gesammelt vor. Es sind Aufnahmen von ergreifender Eindringlichkeit. Sie leuchten Bruckners oftmals unterschätzte Modernität eindrucksvoll aus. Riccardo Chailly ist ein Klangspezialist ohnegleichen. Er arbeitet mit ungeheurer Akkuratesse an der Klarheit von Harmonien.
Dadurch verleiht er der hochemotionalen Kunst Anton Bruckners eine atemberaubende Anmut. Das zeigt sich bereits exemplarisch in seiner legendären Interpretation der “Ouvertüre in g-Moll”, die er 1988 mit dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin aufgenommen hat. Dieses orchestrale Meisterwerk Anton Bruckners, das bereits auf etliche Motive und Gestaltungsmittel seiner Sinfonien vorausweist, erreicht bei Chailly eine Gefühlstiefe, die überwältigend ist. Deshalb versteht man nur zu gut, weshalb das Werk in die Edition der Sinfonien mit aufgenommen wurde.
Bruckners Sinfonien lässt Chailly in einer hinreißenden Farbenpracht erklingen. Er veredelt das Pathos von Anton Bruckner. Mit jedem einzelnen Takt führt er vor, dass der österreichische Komponist ein begnadeter Harmoniker mit überaus kühnen Einfällen war. Bruckner marschierte an der Seite Wagners mutig voran und machte einen Riesenschritt in die moderne Zeit. Bei Bruckner findet man oft beides: eindringliche Melodien und modern anmutende Klangblöcke. Und kein Dirigent vermag die Spannung zwischen diesen Kräften mit einem solchen Geschick und einer so ergreifenden Gefühlssicherheit zu halten wie Riccardo Chailly.